„Die Jugend ist Erdoğans Albtraum“
Für den Aktivisten und Politiker Bedri Baykam sind die aktuellen
Proteste das Finale seines 26-jährigen Kampfes gegen die Islamisierung
der Türkei. Wie das Endspiel aussieht und was die EU und andere
Beobachter jetzt tun müssen, schildert er im Gespräch mit Martin
Eiermann.
The European: Wie ist momentan die Situation in Istanbul?
Baykam: Die Sonne scheint, der Sommer ist heiß und die Politik steckt in der Krise.
The European: Schauen Sie für uns zurück: Wie hat sich die Türkei in den vergangenen drei Wochen verändert?
Baykam: Da müssen Sie weiter zurückschauen als nur drei Wochen! Ich
kämpfe seit 26 Jahren gegen die Politisierung des Islam. In den späten
1990er-Jahren lag die Inflation in der Türkei teilweise bei 90 Prozent
und viele Menschen haben sich damals von den Versprechungen religiöser
Parteien vereinnahmen lassen. Es war eine gefährliche Zeit, auch wenn
viele Politiker das nicht wahrhaben wollten und zu viele Kompromisse
eingegangen sind. Dazu kommt, dass die politische Landschaft hier sehr
uneben war. Es gab drei Parteien links der Mitte und drei rechts der
Mitte und alle haben sich gegenseitig Stimmen weggenommen – anders als
in der Zeit zwischen den 1950er-Jahren und den 1990er-Jahren, als die
Linke fast die Hälfte der Wählerstimmen gewinnen konnte und gut
zusammenarbeitete. Heute ist sie engstirnig und weniger bedeutend, es
gibt keine Solidarität mehr. Erdoğan hat diese Situation ausgenutzt und
seine politische Macht sukzessive ausgebaut. Als das Oberste Gericht
seine alte Partei aufgrund anti-säkularer Umtriebe verbot, gründete er
2001 einfach eine neue Partei.
The European: Die AKP, die derzeitige Regierungspartei.
Baykam: Genau. Die Partei gewann 2002 zwar nur ein Drittel der Stimmen,
aber zwei Drittel der Sitze im Parlament, da die meisten kleinen
Parteien aufgrund der Zehn-Prozent-Hürde den Einzug verpasst haben.
Viele Wählerstimmen sind damit ganz einfach verfallen! Aber ich will
nicht nur das System verantwortlich machen. Die Oppositionsführer haben
nicht verantwortlich gehandelt, haben nur an das eigene Mandat und den
eigenen Parteiposten gedacht und nicht miteinander kooperiert.
The European: Das zeigt sich auch heute noch. Die Proteste
wurden schließlich nicht von Parteien organisiert, sondern haben eine
bunte Koalition aus verschiedenen Gruppen und Organisationen gemeinsam
auf die Straße und in den Gezi-Park getrieben – oder sehen Sie das
anders?
Baykam: Die Jugend hat nicht mehr das Gefühl, dass sie in der Parteipolitik zu Hause ist. Das gilt auch für meine eigene Partei
CHP,
die türkischen Sozialdemokraten. Viele junge Menschen waren apolitisch,
wollten Spaß haben, Musik hören, reisen. Ich bin viel durch das Land
gereist und habe Reden gehalten und im Publikum saßen dabei meistens
ältere Menschen, die sich um die Zukunft des Landes und um die
Islamisierung gesorgt haben. Leider hat keine der Oppositionsparteien
realisiert, welchen Wert die junge Generation der Freiheit beimisst. Das
ist einer der Gründe, warum wir im neuen
CHP-Programm jetzt fordern, dass junge Männer und Frauen jeweils zu 25 Prozent in der Politik repräsentiert sein müssen.
„Claudia Roth und Daniel Cohn-Bendit haben sich täuschen lassen“
The European: Die politische Entwicklung der Türkei hat sich
auch vor dem Hintergrund eines möglichen EU-Beitritts abgespielt. Das
Argument der Europäer war dabei immer, dass die Bedingungen eines
Beitrittsverfahrens mitverantwortlich für die wirtschaftlichen und
politischen Reformen in der Türkei sind und das Land demokratischer
gemacht haben, als es unter dem Kemalismus war.
Baykam: Die
AKP ist schon immer gegen
Säkularismus und Demokratie, aber sie haben Europa glauben lassen, dass
sie gute Reformpolitik machen. Sie haben Leute wie Claudia Roth oder
Daniel Cohn-Bendit einfach getäuscht. EU-Vertreter kamen in die Türkei
und haben dann gesagt bekommen: „Seht her, hier gibt es keine Folter,
wir machen dieses und jenes anders und wir haben das Gesetz geändert.“
Europa hat geglaubt, dass Erdoğan politisch mit den Christdemokraten
vergleichbar ist und als Vorbild für den Nahen Osten fungieren kann –
dabei hat er versucht, unser Land immer stärker an den Iran
anzugleichen. Die Regierung hat nie geplant, wirklich in die EU
einzutreten: Europa hat die Türkei als Exportmarkt benutzt und Erdoğan
hat den Beitrittsprozess benutzt, um sich politische Gegner vom Hals zu
halten. Er hat der Armee gesagt: „Ihr könnt mir nichts anhaben, solange
wir verhandeln. Ihr wollt doch die EU nicht verschrecken.“ In Europa
haben Journalisten dann meistens geschrieben, dass die Reformen
voranschreiten und die faschistischen Gesetze aus der Zeit des
Kemalismus neu geschrieben werden. Wir haben damals schon in die Welt
hinausgeschrien, dass ihr einem Trugbild aufsitzt.
The European: Trotzdem war Erdoğan sehr populär …
Baykam: Es gab schon 2007 eine Protestwelle in Städten wie Ankara, Izmir
und Istanbul. Die derzeitigen Proteste haben einen anderen Auslöser,
aber viele der Organisatoren von 2007 waren auch jetzt wieder ganz von
Anfang an dabei. Seit 2007 ist aber viel passiert: Erdoğan hat zwei
große Gerichtsprozesse angestrengt, den
Ergenekon-Prozess und den
Balyoz-Prozess,
in dem Künstler, Schriftsteller, Professoren, Journalisten und Generäle
beschuldigt wurden, einen Umsturz geplant zu haben. Die Polizei ist in
die Wohnungen von Schriftstellern eingedrungen und hat ihre Bücher und
Notizen konfisziert und Leute verhaftet. Seit fünf oder sechs Jahren
sitzen sie jetzt ohne Anklage in Haft!
In einem Rechtsstaat kann man jemanden verhaften, wenn es einen
begründeten Verdacht und Beweise gibt. In der Türkei ist es umgekehrt:
Erst wird verhaftet, dann sucht die Polizei nach Beweisen für die Schuld
des Gefangenen. Dogu Perincek, der Vorsitzende der Arbeiterpartei,
sitzt seit sechs Jahren in Haft. Seine Partei ist klein, aber wichtig,
denn sie kontrolliert eine gute Zeitung und einen Fernsehsender. Der
Direktor der Universität von Malatya, Fatih Hilmioglu, wurde als
angeblicher Initiator eines Staatsstreichs verhaftet. Sein Verbrechen
war, dass er an der Universität für Säkularismus und Kemalismus
eingetreten ist. Mehmet Haberal, Präsident der Bashkent-Universität in
Ankara und ein bedeutender Transplantationschirurg, sitzt seit fünf
Jahren im Gefängnis. Puncay Özkan, Eigentümer eines oppositionellen
Fernsehsenders, ist ebenfalls seit fünf Jahren inhaftiert, genauso wie
Mustafa Balbay, Leitender Redakteur der linksgerichteten Zeitung
„Cumhüriyet“. Redakteure der größten türkischen Zeitung „Hüriyet“ wurden
gefeuert, nachdem die Herausgeber Anrufe von den Behörden bekommen
hatten. Sie fragen immer noch: „Was haben wir verbrochen? Wie lautet die
Anklage?“
The European: Wovor hat Erdoğan Angst? Vor dem Säkularismus
oder vor Konkurrenten um politische Macht? In der Türkei gibt es
beispielsweise die Vorstellung eines tiefen Staats
aus den Zeiten des Kemalismus, also eines Schattennetzwerks aus Politik
und Militär, das immense Macht ausüben kann. Viele Beobachter teilen
diese Einschätzung mit Abstrichen. Erdoğan hat in der Vergangenheit
immer wieder argumentiert, dass diese alten Strukturen zerbrochen werden
müssten – und hat das als Rechtfertigung für die Verhaftung von
Oppositionellen benutzt.
Baykam: Erdoğan hat seine Gegner immer wieder beschuldigt, einen
Staatsstreich zu planen. Ihre Antwort: „Wir wollen lediglich die
demokratische Opposition organisieren und die
AKP
ablösen.“ Die Regierung versucht, eine Verschwörung zu erfinden und
dann eine ganze Reihe an politischen Gegnern zu verhaften. Erst waren es
die Schriftsteller und Künstler, im Balyoz-Prozess dann auch wichtige
Armeegeneräle. Erdoğan hat versucht, sie miteinander in Verbindung zu
bringen und als Verschwörer zu brandmarken. Die
AKP
hatte ein Klima der Angst geschaffen – ich benutze hier ganz bewusst
die Vergangenheitsform, denn in den vergangenen Wochen hat sich ganz
viel verändert – und die Telefone der Opposition angezapft. Kritik an
der Regierung hat man sich gegenseitig ins Ohr gewispert, weil man nie
sicher sein konnte, ob man nicht belauscht wird. Die Opposition war
paralysiert, die Armee ist seit der Verhaftungswelle eher tot als
lebendig und die Medien halten still. Das konnte man am 29. Mai genau
beobachten.
The European: Fast alle türkischen Fernsehsender haben unschuldige Dokus gezeigt, anstatt über die Proteste zu berichten.
Baykam: Die haben Berichte über Pinguine gezeigt! Nur drei
Spartenkanäle, darunter auch der Sender der Arbeiterpartei, haben
wirklich berichtet. Den Medien fehlt das Rückgrat, um über die
Ereignisse in der Türkei zu berichten. Wir nennen sie jetzt die
„Pinguin-Medien“. Pinguine sind zum Symbol für große Medienhäuser
geworden, die offensichtlich ihren Mut und auch den Sinn für die
Realität verloren haben.
„Es ist fast wie in einem Charlie-Chaplin-Film“
The European: Lassen Sie uns noch einmal über die Jugend
sprechen. Warum ist diese scheinbar apolitische Generation gerade jetzt
auf die Straße gegangen?
Baykam: Wir waren lange Zeit sehr traurig, dass die Jugend nicht
politisch aktiv war. Vor eineinhalb Jahren haben wir eine
Künstlerinitiative gegründet und gesagt: „Wir weigern uns!“ Wir weigern
uns, politische Dekrete zu akzeptieren. Wir weigern uns, eine
undemokratische Regierung zu unterstützen. Wir weigern uns, in
islamische Traditionen gezwungen zu werden. Die meisten unserer
Unterstützer kamen aber immer noch aus den älteren Generationen. Wir
waren also enttäuscht und haben deshalb eine wichtige Veränderung nicht
bemerkt: Erdoğan hat die Lichter der Demokratie ganz langsam gedimmt –
bis er die Armee und die Presse ausgeschaltet hatte. Seitdem treibt er
den konservativen Wandel entschlossener voran und hat das Gesetz an sich
gerissen. Die Richter des Obersten Gerichts werden vom
Justizministerium ernannt, was wiederum dem Premierminister untersteht.
Die Islamisierung der Türkei schreitet voran, Erdoğan hat Gesetze
vorgeschlagen, die den Konsum von Alkohol einschränken würden oder
Abtreibung und Kaiserschnitte verbieten würden. Ein Gericht hat sich
sogar mit der Legalität verschiedener Sex-Positionen befasst! Sie haben
gar keine Ahnung, mit welchen Dummheiten wir hier zu kämpfen haben. Es
ist fast wie in einem Charlie-Chaplin-Film.
The European: Die Proteste sind ausgebrochen, weil es plötzlich um das Privatleben der Menschen geht?
Baykam: Die Regierung hat unseren Lebensstil und unsere Stadt
angegriffen. Können Sie sich vorstellen, dass die französische Regierung
die Champs d’Élysées planiert oder dass die Briten den Piccadilly
Circus einstampfen? Die Pläne zur Zerstörung des Gezi-Parks stehen also
am Ende der Geschichte, die ich Ihnen seit dreißig Minuten erzähle. Der
Park war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen gebracht hat. Daraus
ist ein Tsunami geworden: Die Jugend, die wir alle immer für unpolitisch
gehalten haben, ist zu Erdoğans größtem Albtraum geworden. Nach zwanzig
Jahren im politischen Koma kamen auf einmal alle auf die Straße: junge
Menschen, Arbeiter, Arbeitslose, Manager, bürgerliche Familien,
Bankiers, Künstler, Gemüseverkäufer, Taxifahrer, alle! Der Hass hat sie
geeint. Erdoğan hat gesagt, dass man die Bäume an anderer Stelle ja
erneut pflanzen könne – aber es geht doch schon lange nicht mehr um
einen Park! Grünflächen sind wichtig, aber hier geht es um so viel mehr
als das.
The European: Sie beschreiben ein tief verwurzeltes
Machtgefüge. Jetzt ist der Park geräumt und das Zeltlager aufgelöst.
Kann die bunte Protestbewegung es denn überhaupt schaffen, den
Widerstand gegen Erdoğan ähnlich tief zu verwurzeln? Ansonsten dürfte
dieser Protest doch ein relativ singuläres Ereignis bleiben.
Baykam: Sie fragen jemanden, der einen Teil dieser Last auf seinen
Schultern tragen wird. Ich kenne viele der Organisationen und habe schon
lange um den Taksim-Platz gekämpft. Ich bin seit 26 Jahren Teil des
Widerstands. Das Wichtigste ist, dass die sozialdemokratische
CHP
sich für alle Demonstranten öffnet und wieder solidarisch denkt. Viele
junge Menschen fühlen sich in keiner Partei zu Hause und sie müssen auch
nicht mit Herzblut
CHP-Mitglieder werden, aber sie müssen bei den kommenden Wahlen für die
CHP
stimmen. Wenn das nicht passiert, war die ganze Energie umsonst.
Erdoğan darf nicht noch einmal die Wahlen gewinnen – denn wenn er wieder
siegt, dann wird er sagen: „Ihr habt zwar viel Krach gemacht, aber der
Herrscher der Türkei bin weiterhin ich.“
The European: Eine große Herausforderung – zumal das
Vertrauen der Jugend in politische Parteien ja nicht nur in der Türkei
sinkt, sondern auch in vielen EU-Ländern.
Baykam: Es wird sehr schwierig werden, die Leute davon zu überzeugen,
dass wir jetzt gemeinsam wählen müssen. Und es wird schwierig werden,
die Parteien aus ihrer Isolation herauszuholen und zur Zusammenarbeit zu
bewegen. Unser erstes Ziel muss sein, die derzeitige Regierung auf
demokratischem Weg abzulösen. Nach der Wahl können wir dann endlich die
Zehn-Prozent-Hürde absenken und die Menschen können wieder zu ihren
Gruppen zurückkehren, aber momentan ist es sehr wichtig, dass wir unsere
politischen Kräfte bündeln und keine Wählerstimmen vergeuden.
„Ich will die beste Demokratie der Welt“
The European: Auch heute noch ist die AKP
durchaus populär. Viele Türken haben von der wirtschaftlichen
Entwicklung der letzten Jahre profitiert und wünschen sich eine stärkere
Präsenz des Islam im gesellschaftlichen Alltag. Überschätzen Sie nicht
den Grad der Unzufriedenheit?
Baykam: Die Unterstützung für Erdoğan liegt bei etwa 33 Prozent. Aber
ich sage Folgendes: Erdoğan hat nie gesagt: „Jeder sollte nach den
eigenen Vorlieben leben können.“ Er hat seine Macht konsolidiert und
dann Druck auf alle ausgeübt, die nicht mit ihm übereinstimmen. Besucher
aus Europa haben meistens nur die friedlichen Straßen gesehen, aber
hinter den Kulissen gab es viele Repressionen. Vier Demonstranten sind
in den letzten Wochen gestorben. Es gab Verletzte, Menschen haben ihr
Augenlicht verloren. Die Polizei hat aus nächster Nähe mit Tränengas
direkt auf Demonstranten geschossen und sogar ein Hotel und ein
Krankenhaus unter Beschuss genommen. Nicht einmal im Krieg darf man ein
Krankenhaus angreifen! Die internationale Gemeinschaft muss jetzt sagen:
„Herr Erdoğan, das geht so nicht. Wir zeigen Ihnen, was erlaubt ist und
was nicht.“ Erdoğan hat seine Anhänger aufgefordert, auf der Straße
gegen die Demonstranten zu kämpfen, anstatt um die Unterstützung der
Opposition zu werben. Ein demokratischer Premier würde so etwas nie tun!
The European: Auch Sie sind in der Vergangenheit angegriffen worden …
Baykam: Ich bin von einem Islamisten mit dem Messer attackiert worden
und beinahe ums Leben gekommen. Aber ich hatte noch Glück, andere
Schriftsteller sind bei ähnlichen Übergriffen gestorben. Ich war ein
paar Wochen im Krankenhaus und habe dann wieder begonnen, zu schreiben
und zu kämpfen. Wer ohne Freiheit leben muss, der lebt doch gar nicht.
Die Polizei kann uns mit Tränengas beschießen, aber sie können uns keine
Angst mehr machen. Das Spiel ist aus.
The European: EU-Politiker argumentieren jetzt, dass man den
Dialog mit Erdoğan nicht abreißen lassen darf. Glauben Sie, dass der
Premier zuhört?
Baykam: Jemand müsste Erdoğan einmal erklären, wie Demokratie
funktioniert und dass er seine Glaubwürdigkeit verloren hat. Er scheint
zu denken, dass ein Premierminister nach dem Wahlsieg auf niemanden mehr
Rücksicht nehmen muss. Er hat Demokratie in Diktatur umdefiniert, er
hat keinen Respekt vor Menschenrechten, Minderheitenrechten,
Parteipluralismus, Kontrollmechanismen und vor der freien Presse.
Erdoğan war sehr überrascht von den Protesten, denn er hatte sich
eingeredet, dass er die Opposition zerschlagen habe und dass das
Verlangen der Jugend nach Freiheit zerstört sei. Jetzt hat er ein großes
Problem: Das Klima der Angst hat sich verzogen. Menschen und
Organisationen, die vorher nie gemeinsame Sache gemacht hätten, arbeiten
auf einmal zusammen. Die große Frage ist, ob diese Solidarität bis zur
nächsten Wahl anhält. Wir müssen unsere Hausaufgaben machen.
The European: Welche Zukunft wünschen Sie sich für die
Türkei? Eine Rückkehr zum Kemalismus? Eine Demokratie nach europäischem
Vorbild?
Baykam: Ich will die beste Demokratie der Welt. Ich will keine
Demokratie, die lediglich „bon pour l’Orient“ ist, gut für den Orient.
Ich will keine „sogenannte Demokratie“ oder „Pseudo-Demokratie“ und ich
will auf keinen Fall eine Regierung, die ihre Bürger wie Scheiße
behandelt. Ich halte nichts von der Präsidialreform, die Erdoğan
anstrebt und die ihm weitere Macht verschaffen könnte. Er wäre dann so
etwas wie ein gewählter Sultan. Das will niemand. Ich hoffe daher, dass
wir die richtige Balance finden aus einer freien Wirtschaft, gleichen
Rechten für alle unabhängig von Hautfarbe oder Geschlecht,
sozialdemokratische Rechte, Redefreiheit, Freiheit der Kunst und der
Wissenschaft und Frieden. Wir wollen ein Land mit Frieden zu Hause und
Frieden in der Welt, wie Atatürk einmal gesagt hat.
The European: Welche Rolle spielt die Religion innerhalb dieses Systems?
Baykam: In einer freien Gesellschaft kann jeder frei entscheiden,
welcher Religion er angehören möchte, zu welchem Gott er beten möchte,
ob er als Muslim zum Hadsch pilgert oder als Jude freitags zu Hause
bleibt. Nur die Gesetze sollten nicht auf der Religion fußen. Das ist
Säkularismus. Und wenn religiöse und säkulare Werte gegeneinanderreiben,
dann dürfen wir nicht einfach sagen, dass die religiösen Werte
unangreifbar sind und Vorrang vor anderen Werten genießen sollten. Wenn
ich toleriere, dass jemand zum Beten in die Moschee geht, dann muss ich
auch tolerieren, dass ein anderer in die Disko geht, Alkohol trinkt und
Sexfilme schaut.
Übersetzung aus dem Englischen.
Hat Ihnen das Interview gefallen? Lesen Sie auch ein Gespräch mit Emmanuel Nahshon:
„Wir sind eine Insel der Demokratie im Ozean der Veränderung“
Gespräch von
Martin Eiermann
mit
Bedri Baykam
20.06.2013
Mehr zum Thema:
Demokratie,
Tuerkei,
Protest