Zweiter Tschetschenienkrieg |
Eines von vielen Massengräbern in Tschetschenien (2000). |
Datum |
1999 bis 2009, offiziell beendet |
Ort |
Tschetschenien |
Ausgang |
Militärischer Sieg der russischen Streitkräfte, Liquidierung der wichtigsten Anführer der Separatisten |
Folgen |
Etablierung des russlandtreuen Präsidenten Kadyrow, fortwährender Guerillakrieg auf niedrigem Niveau |
|
Konfliktparteien |
Russland
pro-russische Tschetschenen |
Tschetschenische Republik Itschkeria
Ausländische Mudschaheddin |
Der
Zweite Tschetschenienkrieg war ein militärischer
Konflikt in der russischen
Kaukasusrepublik Tschetschenien. Er begann 1999 und ist seit April 2009 offiziell beendet.
Hintergründe
Nach der Unterzeichnung des Friedensvertrages von
Chassawjurt 1996 wurde Tschetschenien de facto, allerdings nicht
de jure
eine unabhängige Republik. Jedoch rissen die intensiv aus dem Ausland
unterstützten islamistischen Gruppierungen bald die Macht an sich. Der
1997 noch demokratisch gewählte Präsident
Aslan Maschadow musste schon bald einwilligen, die
Schari’a einzuführen, und seine Macht mit den
Kriegsherren und ihren
wahhabitischen Mentoren aus dem arabischen Raum teilen. Dem Aufbau der staatlichen Exekutivstrukturen widersetzten sich kriminelle
Clans.
Bis zum Jahr 1999 verwandelte sich Tschetschenien auf diese Weise in
ein sicheres Rückzugsgebiet für Mitglieder mafiaähnlicher Vereinigungen,
die im ganzen
GUS-Raum operierten. Parallel dazu fanden eine erzwungene
Islamisierung des öffentlichen Lebens, Übergriffe auf nicht-muslimische Minderheiten und ihr Exodus statt.
Kriegsverlauf
Rund 400 tschetschenische Freischärler unter der Führung von
Schamil Bassajew und
Ibn al-Chattab griffen am 7. August 1999 die Nachbarprovinz
Dagestan an. In diesen Kämpfen (siehe
Dagestankrieg)
bis zum 26. August 1999 kamen rund 73 russische Soldaten ums Leben und
259 wurden verwundet. Zwischen dem 5. und 15. September 1999 griffen
rund 2.000 Kämpfer den dagestanischen Bezirk Nowolakskij an und töteten
mehrere hundert Menschen. Am 1. Oktober 1999 marschierte die
russische Armee erneut in Tschetschenien ein, um die aus der Sicht Russlands kriminelle und die Rebellen unterstützende Regierung von
Aslan Maschadow von der Macht zu entfernen. Schon bald eroberte die Armee den Großteil des tschetschenischen Flachlandes und die Hauptstadt
Grosny.
Maschadow und die islamistischen Gruppierungen tauchten in den
Untergrund ab und versuchten, sich in die schwer zugänglichen südlichen
Gebirgsregionen zurückzuziehen, wo sie sich vor der russischen Armee
sicher glaubten. Nachdrängende russische Truppen schlossen jedoch einen
Großteil der flüchtenden Rebellen südlich von Grosny ein. Während der
überwiegende Teil von ihnen nach der
Schlacht um Höhe 776 der Umschließung entkam, wurde ein weiterer Großverband unter dem Kommando von
Ruslan Gelajew bei Komsomolskie von Föderationstruppen aufgerieben.
Die eigentliche militärische Phase der russischen Invasion endete
demzufolge bereits im Frühjahr 2000. Ihre Truppen blieben jedoch vor Ort
stationiert, um eine Rückkehr der Rebellen zu verhindern und sie, wenn
möglich, gänzlich aus ihren Rückzugsgebieten zu vertreiben.
Die verbliebenen tschetschenischen Verbände, unter denen sich auch internationale
Dschihad-Kämpfer befanden, gingen in der Folge zu einer
Guerilla-Taktik
über, indem sie kleine Kampfeinheiten (10 bis 50 Mann) bildeten und auf
überfallartige Angriffe und Anschläge gegenüber der russischen Armee
setzten, bei denen oft auch tschetschenische Zivilisten starben. Ab 2000
traten auch erstmals weibliche Selbstmordattentäter, die so genannten „
Schwarzen Witwen“, in Erscheinung. Von Beobachtern werden ausländische Geldgeber als Finanziers der Rebellen vermutet, wobei
Georgien aufgrund seiner Lage als Operationsbasis vermutet wird.
2001 startete Russland eine breit angelegte so genannte
„Antiterror-Operation“ mit dem Ziel der Zerschlagung des
tschetschenischen Widerstandes. In ihrem Verlauf gelang es den Russen
nach und nach, wichtige Führungspersonen des tschetschenischen
Widerstandes auszuschalten, darunter tschetschenische und internationale
Größen wie
Ibn al-Chattab,
Abu al-Walid,
Salman Radujew, Ruslan Gelajew und
Aslan Maschadow. Ein Erfolg bei der Auffindung des wohl gefährlichsten Terroristen
Schamil Bassajew
blieb lange aus, doch am 10. Juli 2006 wurde sein Tod gemeldet.
Angeblich wurde er durch eine russische Geheimdienstaktion getötet.
Am 26. September 2002 griffen die tschetschenischen Freischärler
unter dem Anführer Ruslan Gelajew die kleine russische Republik
Inguschetien an und töteten in dem Dorf Galschki 14 russische Soldaten und 17 Bürger.
Bei der
Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater
vom 23. Oktober bis 26. Oktober 2002 nahmen tschetschenische
Selbstmordattentäter, darunter auch mehrere Frauen, unter Führung von
Mowsar Barajew
etwa 700 Geiseln und forderten die Beendigung des Krieges und den
sofortigen Abzug des russischen Militärs. Zur Beendigung des Dramas
setzten die russischen Behörden ein zuvor ungetestetes Betäubungsgas (
Carfentanyl)
ein. Dabei starben alle 41 Geiselnehmer sowie 129 Geiseln: Die
bewußtlosen Geiselnehmer durch Genickschüsse der russischen
Einsatzkommandos, die Theaterbesucher überwiegend aufgrund der
Betäubungsmittelüberdosis und der unzureichenden medizinischen
Versorgung nach ihrer Befreiung.
Ein Bombenanschlag auf das tschetschenische Regierungsgebäude in
Grosny am 27. Dezember 2002 forderte 72 Todesopfer. Im Februar 2003
erließen die
USA Sanktionen gegen tschetschenische Rebellengruppen und setzten sie auf ihre
Liste terroristischer Organisationen,
unter anderem infolge der Bombenattentate in Moskau. Außerdem wurden
Bankkonten eingefroren. Bei einer Volksbefragung in Tschetschenien am
23. März 2003 stimmten laut offiziellem Ergebnis 95,5 % der Bevölkerung
für den Verbleib in der Russischen Föderation. Beobachter bezweifelten
allerdings die Rechtmäßigkeit des Wahlergebnisses.
Am 5. Oktober 2003 fanden in Tschetschenien Präsidentenwahlen statt. Russlands Präsident
Wladimir Putin, der diese Wahlen angeordnet hatte, gelang es, seinen Kandidaten
Achmad Kadyrow,
den Chef der Verwaltungsbehörde, durchzusetzen, indem er erwirkte, dass
alle Kandidaten, die in Umfragen vor Kadyrow lagen, nicht kandidierten.
Aslambek Alsachanow bekam als Gegenleistung für den Rückzug seiner Kandidatur einen Posten als Putins Beauftragter in Tschetschenien-Fragen,
Malik Saidullajews Kandidatur wurde vom Obersten Gerichtshof für ungültig erklärt. Die Wahl, zu der die
OSZE
nach offiziellen Angaben aus Sicherheitsgründen keine Beobachter
entsandt hatte, wurde sowohl von westlichen Politikern als auch von
Menschenrechtsorganisationen als Farce bezeichnet. Kadyrow kündigte an,
noch härter gegen seine Gegner vorzugehen.
Sieben Monate später, am 9. Mai 2004, wurde Kadyrow bei einem
Bombenanschlag getötet. Putin ernannte daraufhin den tschetschenischen
Regierungschef
Sergej Abramow zum provisorischen Präsidenten.
Nach einem Radiointerview des von
Moskau
nicht anerkannten, im Untergrund lebenden Präsidenten Aslan Maschadow
im Juni 2004, in dem er eine Taktikänderung bei den Separatisten
ankündigte, griffen am 22. Juni 2004 – am symbolträchtigen Jahrestag des
deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 –
tschetschenische Rebellen erneut die Nachbarrepublik Inguschetien an.
Nach Augenzeugenberichten umzingelten etwa 200 schwer bewaffnete
Rebellen mehrere Polizeistationen, Posten der Verkehrspolizei und eine
Kaserne von Grenzsoldaten und erschossen alle anwesenden Polizisten,
Soldaten sowie Mitarbeiter der Staatsanwaltschaft und des
Inlandsgeheimdienstes
FSB.
In dem Blutbad starben 90 Menschen, darunter 62 lokale
Sicherheitskräfte, der inguschetische Innenminister Abukar Kostojew,
einer seiner Stellvertreter und der Gesundheitsminister.
Im September 2004 starben bei der
Geiselnahme in einer Schule im
nordossetischen
Beslan nach offiziellen Angaben 338 Zivilisten und Sicherheitskräfte
sowie die etwa 30 Geiselnehmer. Das Kommando hatte am Einschulungstag
eine große Anzahl von Schülern, Lehrern und Eltern in ihre Gewalt
gebracht und drohte mit der Sprengung der Turnhalle, in der sie sich mit
den Geiseln aufhielten, falls Russland sich nicht aus Tschetschenien
zurückzöge. Der Aktion waren die Entführung und spätere Sprengung zweier
russischer Passagiermaschinen mit etwa 90 Menschen an Bord sowie ein
Anschlag auf eine Station der
Moskauer Metro mit 12 Todesopfern vorausgegangen. Die Verantwortung übernahm jeweils der tschetschenische Rebellenführer
Schamil Bassajew.
Am 8. März 2005 gelang es den Russen, den nicht anerkannten Rebellen-Präsidenten Maschadow bei
Tolstoj-Jurt
zu stellen und im Verlauf der nicht näher aufgeklärten Operation zu
töten. Während im Westen in diesem Zusammenhang Warnungen vor einer
Radikalisierung des tschetschenischen Widerstandes geäußert wurden,
gingen viele russische Beobachter, denen Maschadow als Drahtzieher und
Mitorganisator zahlreicher Anschläge galt, von einer Minderung der Zahl
der Terrorakte und einer Stabilisierung der Lage aus. Tatsächlich zogen
sich die wenigen verbliebenen Rebellen mehr und mehr aus dem Vorhaben
eines Krieges gegen Russland zurück. Ihre Zahl wurde je nach Quelle auf
etwa 100–200 Mann geschätzt, die in kleinen Gruppen von 2–4 und
höchstens 10–15 Mann operieren. Um ihr eigenes Fortbestehen zu
finanzieren, sind die Gruppen vermehrt zum Drogenhandel übergegangen.
Am 16. April 2009 wurde auf Anweisung des russischen Präsidenten
Dmitri Medwedew
Tschetscheniens Status einer "Zone der Ausführung antiterroristischer
Operationen" aufgehoben. Mit dem Abzug etwa 20.000 russischer
Militärangehöriger liegt die Regierungsgewalt verstärkt beim 2007
vereidigten Präsidenten Tschetscheniens,
Ramsan Kadyrow.
[1]
Menschenrechtssituation
Auch in diesem Krieg wurden und werden schwere
Menschenrechtsverletzungen durch russische Einheiten (Soldaten, Truppen
des Innenministeriums, „
OMON“-Sondereinheiten)
und Rebellen verübt. Seit Beginn des Krieges sind Tausende von
Zivilisten, vorwiegend junge tschetschenische Männer, unter dem Vorwurf
des Terrorismus verschleppt, gefoltert und ermordet worden.
Vergewaltigungen und Plünderungen sowie Erpressungen der
Zivilbevölkerung durch die Sicherheitskräfte an den zahlreichen
Kontrollpunkten halten an. Seit 2002 sind dafür zunehmend die
paramilitärischen, zum Großteil aus ethnischen Tschetschenen geformten
Einheiten verantwortlich, die von
Ramsan Kadyrow, Sohn des 2003 von Moskau installierten, 2004 jedoch bei einem Attentat getöteten Präsidenten der Republik,
Achmad Kadyrow, kontrolliert werden.
2003 wurde
Juri Budanow
wegen Mordes an der 18-jährigen Tschetschenin Elsa Kungajewa
rechtskräftig zu zehn Jahren Haft verurteilt, von denen er gut die
Hälfte verbüßte. Budanow war der erste russische Offizier, der wegen
eines Verbrechens im Tschetschenienkrieg vor Gericht stand.
Im Mai 2013 recherchierte die Zeitschrift "Die Welt" in Zusammenhang
mit einem Flüchtlingansturm aus der Russischen Föderation nach
Deutschland. Die "Welt" erfuhr daraufhin aus "Sicherheitskreisen" der
Bundesrepublik Deutschland, dass es sich vor allem um Menschen aus der
Region Tschetschenien handele. In dem daraufhin erschienenen Artikel, in
der die "Welt" ein Mitglied der russischen NGO "Bürgerlicher Beistand"
interviewte, berichtete das Blatt, dass es immer noch zahlreiche
Menschenrechtsverletzungen wie Entführung, Folter und Vergewaltigung
gebe. Viele Fälle würden belegen, dass Tschetschenen von ihren
Kompensationen für zerstörte Häuser Schutzgeld zahlen müssten. Außerdem
würde der von der russischen Regierung unterstützte Präsident Ramsan
Kadyrow das Land mit Gewalt regieren. Die Situation der Frauen wäre
besonders schlimm, da "jede junge Frau [...] mit einem Mann aus dem
Umfeld von Kadyrow zwangsverheiratet werden [kann], wenn er es will",
wie ein Mitglied der russischen NGO "Bürgerlicher Beistand" berichtete.
[2]
Sonstiges
Das
georgische Pankissi-Tal stand wiederholt im Verdacht,
tschetschenisch-
islamistische Terroristen zu beherbergen.
Siehe auch
Literatur
- Arkadi Babtschenko: Die Farbe des Krieges. Rowohlt, Berlin 2007, ISBN 978-3-87134-558-6
- Arkadi Babtschenko: Ein guter Ort zum Sterben. Rowohlt, Berlin 2009, ISBN 978-3-87134-641-5
- Heiko Sauer, Niklas Wagner: Der Tschetschenien-Konflikt und das
Völkerrecht. Tschetscheniens Sezession, Russlands Militärinterventionen
und die Reaktionen der Staatengemeinschaft auf dem Prüfstand des
internationalen Rechts. In: AVR, Bd. 45 (2007), S. 53-83.
- Martin Malek: Russlands Kriege in Tschetschenien. »Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung«, »Antiterror-Operation« oder Völkermord?. Aus: Zeitschrift für Genozidforschung Nr. 5/2 2004, S. 101–129
- Anna Politkowskaja: Tschetschenien. Die Wahrheit über den Krieg (dt. Übers. der russ. Ausgabe Вторая Чеченская = Der Zweite Tschetschenienkrieg), Dumont Literatur und Kunst Verlag, Köln 2003, ISBN 3-8321-7832-5
- Hans Krech: Der Zweite Tschetschenien-Krieg (1999–2002). Ein Handbuch, Verlag Dr. Köster, Berlin 2002, (Bewaffnete Konflikte nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, Bd. 11), ISBN 3-89574-480-8
- Johannes Rau: Der Dagestan-Konflikt und die Terroranschläge in Moskau 1999. Ein Handbuch. Verlag Dr. Köster, Berlin 2002, (Bewaffnete Konflikte nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes, Bd. 10), ISBN 3-89574-470-0
- Yuri Felshtinsky, Alexander Litwinenko: Blowing
Up Russia: Terror from within. Acts of terror, abductions, and contract
killings organized by the Federal Security Services of the Russian
Federation. S.P.I. Books, New York 2002, ISBN 1-56171-938-2
- Elisabeth Gusdek Petersen: Grosny – Zürich und zurück. Porträts von fünf Jugendlichen aus Tschetschenien, Orell Füssli Verlag AG, Zürich 2009, ISBN 978-3-280-06105-3
Einzelnachweise
- Sonderstatus aufgehoben; Tschetschenien täuscht eine idyllische Ruhe vor, welt.de, 16. April 2009.
- http://www.welt.de/politik/deutschland/article116230861/Der-Asylansturm-aus-Tschetschenien-wird-groesser.html
Weblinks